Von den Blättern das Loslassen lernen
Vor einiger Zeit tauschte ich mich mit einer Kollegin über die Jahreszeiten aus. Sie sagte mir, wie sie den November samt Nebel schätze. Es sei dann eine mystische Stimmung, die ihr gefalle. Der Monat November – eine mystische Zeit also.
Der Monat November – eine Zeit auch, um sich in Ruhe zurückzuziehen, sich dem Inneren zu nähern und vielleicht auch, die Seele zu nähren. Oder auch – wie das ein Mystiker formulierte – um Gott in sich wohnen zu lassen. Oder wie ein Buchtitel es zum Ausdruck bringt: «Vom Unbegreiflichen ergriffen» sein.
Eine Zeit der Suche
Der Begriff Mystik findet sich in den verschiedensten Religionen. Mystik bedeutet das Bemühen eines Menschen, Gott zu erfassen oder eins mit Gott zu werden, um aus dieser Erfahrung dann Kraft zu schöpfen. Oder etwas anders formuliert: Ich berge mich in den Urgrund der Wirklichkeit mit allem Hellen und Dunklen. Heute sprechen wir weniger von Mystik, sondern mehr von Spiritualität.
Im Christentum kennen wir einige Mystiker*innen wie Johannes Tauler, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart. Sie alle ermutigen uns, schreibt Pierre Stutz, «uns auf einen lebenslangen Suchprozess einzulassen». Und weiter: «Echte Mystikerinnen und Mystiker f liehen nicht vor der Wirklichkeit, sie versuchen im Hier und Jetzt zu leben und sehen die Wirklichkeit intensiver, nicht oberflächlich, sondern mit den Augen und dem Herzen Gottes.»
Unsagbares denken
So kann uns der Monat November mit seiner mystischen Stimmung einladen, sich dem Verborgenen und oft auch Unsagbaren anzunähern. Dabei kann es sein, dass da mehr Fragen auftauchen als fixfertige Antworten. Diese Erfahrung machten die Mystiker*innen auch. «Gott ist für sie nicht nur selbstverständlich begreifbar oder gegeben» (Andreas Benjamin Kilcher). Da kann dann einfach mal das Schweigen und die Stille sein. Martin Buber nennt das Schweigen einen Schutz vor dem «Getriebe».
Kraft schöpfen für praktisches Handeln
Warum sich also nicht der mystischen Seite des Novembers nähern und dabei auch diese verborgene Seite entdecken? Jede*r hat auch das Recht, sich mal zurückzuziehen. Der Rückzug kann dann Energie und Kraft schenken, um sich der anderen Seite wieder zuzuwenden – dem Widerstand. Denn Mystik ist nicht der Rückzug aus der Welt, sondern immer auch gelebte Solidarität und Gerechtigkeit.
Lassen wir zum Schluss Thomas Merton (1915–1968) – ein Mystiker und Widerstandskämpfer – sprechen: «Wenn du mich kennen willst, frag nicht, wo ich lebe; oder was ich gern esse; oder wie ich mein Haar kämme; sondern frag mich, wofür ich lebe, genau im Einzelnen, und frag mich, was nach meiner Meinung mich davon abhält, völlig für die Sache zu leben, für die ich leben will.»
Regina Osterwalder,
Gemeindeleiterin Ebikon und Pastoralraumleiterin