Buchrain Perlen
Ebikon
Root

Die idyllische Darstellung der fürsorglichen Maria. Foto: pixabay.com

Maria – die ideale Mutter?

«Alles ist vergänglich, aber die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind wird nie enden.» – Wie jedes Jahr im Mai wird man mit solchen gewissermassen pseudophilosophischen Sprüchen konfrontiert. Anlässlich des Muttertages wird allgegenwärtig die scheinbar bedingungslose Mutterliebe gepriesen. Dies muss schmerzhaft sein für jene, die entweder ganz ohne Mutter aufwachsen mussten oder aber aus irgendwelchen Gründen ein schlechtes Verhältnis zu ihr hatten und noch haben. Es besteht in gewisser Weise die gesellschaftliche Erwartung, dass man der eigenen Mutter zu grossem Dank verpflichtet sei und diesen am Muttertag rührselig auszudrücken habe.

Auch in der katholischen Kirche steht der Mai alljährlich im Zeichen der Mutterschaft, wenn man so will. Beispielsweise im Rahmen von Mai-
andachten wird der Gottesmutter Maria gedacht. Der Grundsatz, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind vollkommen harmonisch zu sein hat, hat hier umso mehr Gültigkeit. Schliesslich ist Maria, dem Dogma gemäss, vom ersten Augenblick ihres Daseins von jeglicher Erbschuld unversehrt geblieben, von der Schuldlosigkeit ihres Sohns ganz zu schweigen. Dennoch wage ich die These aufzustellen, dass auch ihr Mutter-Kind-Verhältnis nicht gänzlich unbelastet war. Man denke z. B. an den verloren gegangenen Jesus im Tempel, den Maria mit den Worten schilt: «Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht» (Lk 2,48b). Ein weiteres Beispiel wäre ihr Disput an der Hochzeit zu Kana, als Jesus auf den Hinweis Mariens, dass kein Wein mehr vorhanden sei, erwidert: «Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.» (Joh 2,4). An anderer Stelle lehnt Jesus sogar in gewisser Weise ab, von ihr als seiner Mutter zu sprechen (Mt 12,46-50).

Wenn also sogar Jesus und seine Mutter, die zeitlebens schuldlos blieben, ein solch ambivalentes Verhältnis zueinander hatten, wie vielmehr muss es denkbar, um nicht zu sagen normal, sein, dass wir fehlerbehaftete Menschen keinen einwandfreien Bezug zu unseren Eltern haben – dass es zu Streit, Meinungsverschiedenheiten und Enttäuschungen kommt?

Zu einer gewissen Dankbarkeit, meine ich, sind wir unserer Mutter dennoch verpflichtet. Nämlich zumindest insofern, dass sie uns das Leben geschenkt hat. In fast allen Fällen kommt noch vieles mehr hinzu, weshalb das Fest des Muttertages durchaus seine Berechtigung hat. Für jene, die ein zerrüttetes Verhältnis zu ihrer Mutter haben oder sie allenfalls gar nie kennengelernt haben, bietet die katholische Kirche Maria als Mutterfigur an. Eine Frau, die trotz aller Heiligkeit, eine Mutter war in aller Ambivalenz.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Muttertag und Marienmonat.

Dominik Arnold,
Pfarreiseelsorger i. A.